Altersarmut in Deutschland: Warum so viele Senioren kaum über die Runden kommen
Hands of senior woman with bread and coins on wooden background. Poverty concept. A handout of bread for the poor. the concept of poverty and hunger.
Armut im Alter ist eine tickende Zeitbombe. Denn vieles, was in Zukunft zu Not und Armut führen wird, ist derzeit gesellschaftlich erwünscht.
Wahrscheinlich gibt es auch bei Armut so etwas wie eine Taktung. Beobachtet jedenfalls der freundliche Mann in den mittleren Jahren, der zu ganz verschiedenen Zeiten auf seiner Lieblingsparkbank im Ludwigshafener Stadtteil Mundenheim sitzt. Schichtarbeiter, da nimmt man den Tag in wechselnden Ausschnitten zur Kenntnis. „Morgens so gegen 7 Uhr kommen vor allem alte Frauen“, sagt der Mann, und sie kommen mit teilweise behandschuhten Händen, um auf der Suche nach Flaschen in die Mülltonnen zu greifen. Morgens um 7 Uhr, da ist eben noch wenig los, und das Tun ist den Blicken der anderen entzogen. Später am Tag kommen diejenigen, denen man ihre Obdachlosigkeit ohnehin ansieht, vor wem will man sich da noch schämen, und warum überhaupt. Und dazwischen mischen sich welche, „sehr gut angezogen, die müssten wohl gar keine Flaschen sammeln, ist’n Hobby, vermute ich“, meint der freundliche Mann und muss grinsen.
Konkurrenz um die Pfandflaschen
Und so eröffnet sich vor der Parkbank die Welt, und die macht hier zwei Thesen auf: Um die wenigen Ressourcen, die noch problemlos und ohne Schriftverkehr öffentlich zugänglich sind, und seien es Pfandflaschen, konkurrieren inzwischen ganz unterschiedliche Gruppen. Der nette Mann hat vereinzelt auch schon Gerangel an der Tonne beobachten können. Und: Die, die’s am nötigsten haben, bekommt man oft kaum zu Gesicht, und das gilt wohl grundsätzlich sehr stark für das Thema Altersarmut. Es gibt einen Grund, weshalb ausgerechnet dieser Teil der sozialen Realität kaum öffentlich wird. „Scham“, sagt Hans Sander aus Kaiserslautern, ehrenamtlicher Erwerbslosenberater bei der Gewerkschaft „Verdi“ – und selbst von Altersarmut betroffen.

Die Zahlen malen da ein deutlicheres Bild – und dann tun sie es auch wieder nicht: Laut Statistischem Bundesamt galten im Jahr 2024 knapp 20 Prozent der Menschen über 65 Jahren als armutsgefährdet. Das Risiko, in Altersarmut zu geraten, erhöht sich dabei mit dem Lebensalter: „Insgesamt 22,4 Prozent der Bevölkerung im Alter von 80 Jahren und älter sind von Einkommensarmut betroffen“, so eine Studie des Bundesfamilienministeriums von 2021.
Die Grundsicherung
Wiederum laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben knapp 740.000 Menschen im Jahr 2024 Grundsicherung im Alter bezogen – aber auch diese Zahl ist mit Bedacht zu lesen. Laut Deutscher Rentenversicherung haben rund 500.000 Rentner zusätzlich Grundsicherungsleistungen erhalten, rund drei Prozent aller Rentenbezieher – und die Zahl vermerkt eben nur die alten Menschen, die überhaupt Rentenansprüche haben. Das Statistische Bundesamt erfasse dagegen „auch Senioren, die keine gesetzliche Rente aus der Deutschen Rentenversicherung erhalten“, Geflüchtete beispielsweise, so die Rentenversicherung auf Anfrage.
Rentner, deren Altersbezüge unter einem Schwellenwert liegen, informiert die Rentenversicherung nach eigenen Angaben über einen möglichen Anspruch auf Grundsicherung. „Der Grenzbetrag beträgt das 27-Fache des aktuellen Rentenwertes (40,79 Euro) und beträgt somit derzeit 1101,33 Euro“, schreibt die Deutsche Rentenversicherung. Anträge auf Grundsicherung können dann bei der Rentenversicherung gestellt werden – oder direkt bei den kommunalen Sozialämtern. Die bearbeiten die Anträge für die Leistung, finanziert wird sie aus Bundesmitteln.
Allerdings: Längst nicht jeder, der bezugsberechtigt wäre, stellt überhaupt den Antrag. „Nach empirischen Schätzungen nehmen rund zwei Drittel der Berechtigten ihren Grundsicherungsanspruch nicht wahr“, so eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Altersarmut („Anstieg der Altersarmut in Deutschland: Wie wirken verschiedene Rentenreformen?“, 2019).

Nichtwissen und Scham
„Schlichtes Nichtwissen“ um vorhandene Leistungsansprüche spielt laut Andreas Rein dabei wohl neben Scham ebenfalls eine Rolle, durchaus altersspezifisch dies, meint Rein, Professor am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Ludwigshafen: Viele Senioren „gehen nicht ins Internet und nehmen Informationen dort nicht wahr“, sagt er.
Schaut man nun nach den Gründen dafür, warum die Rente bei vielen auch langjährigen Arbeitnehmern nicht ausreicht, so landet man zum einen beim Thema Niedriglöhne und damit nur geringen akkumulierten Rentenansprüchen. Aktuell liegt die Quote der im Niedriglohnsektor Beschäftigten laut Statistischem Bundesamt in Deutschland bei rund 16 Prozent. Sie war auch schon deutlich höher: Im Jahr 2018 – dem letzten mit vorliegenden europäischen Vergleichszahlen – waren in Deutschland knapp 21 Prozent aller Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt. Womit Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Viertel lag, knapp hinter Bulgarien, knapp vor Rumänien.
Die politischen Maßnahmen, da gegenzusteuern, die hielt und hält Sander für nicht zureichend: „Der Mindestlohn erreicht nur einen Teil der Arbeitnehmer – und der ist auch schon zu niedrig“, illustriert Sander, der für Verdi auch im Sprecherkreis der Landesarmutskonferenz sitzt. Er selbst bezieht 963 Euro an Rente pro Monat.
„Lücken in der Erwerbsbiografie“
Was in seinem eigenen Fall auch mit dem zweiten großen Risikofaktor für Altersarmut zu tun hat: „Ich hab Lücken in der Erwerbsbiografie“, sagt Sander, gelernter Kaufmann, Fachabitur auf dem zweiten Bildungsweg, Sozialpädagogik studiert und dann lange in der Gaststätte der Mutter gearbeitet. Zuletzt war er Ein-Euro-Jobber und hat als Waldarbeiter gearbeitet. Durch Ein-Euro-Jobs wurden, solange es sie gab, im Übrigen auch keine Rentenansprüche erworben – genau sowenig wie durch den Bezug von Bürgergeld.
Dass die beiden Faktoren niedrige Löhne und unterbrochene Erwerbsbiografien sich nun in bestimmten sozialen Gruppen verstärkt niederschlagen, kommt wenig überraschend: Besonders hoch ist die Gefahr, das Alter in Armut verbringen zu müssen, bei „Menschen mit geringer Qualifikation, bei alleinstehenden Frauen und auch alleinstehenden Männern, bei Personen mit längerer Arbeitslosigkeit in ihrer Biografie und bei Menschen mit Migrationshintergrund“, so die Bertelsmann-Studie. Und all dies verweist nun darauf, dass das Phänomen „Altersarmut“ auch ein durchaus hausgemachtes ist.

Signifikant größer geworden ist der Niedriglohnsektor in Deutschland seit der ersten Hälfte der 2000er-Jahre – also seit der Umsetzung der „Agenda 2010“, und die war politisch gewollt. Auf dem Höchststand im Jahr 2007 waren laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung 23,7 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbereich beschäftigt – was sich später natürlich auch im Rentenniveau bemerkbar machen wird.
Teilzeitgrund Betreuung
Zudem: Rund ein Drittel der Arbeitsplätze in Deutschland werden laut EU-Statistik in Teilzeit besetzt – auch da spielt gesellschaftliche Erwünschtheit durchaus eine gewichtige Rolle: Die Versorgung von Angehörigen ist nämlich einer der Hauptgründe für Teilzeitarbeit. Für 24 Prozent der in Teilzeit Beschäftigten ist die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen der Hauptgrund, nicht Vollzeit zu arbeiten, so das Statistische Bundesamt.
Im Beispiel: Rund 5,7 Millionen Menschen waren 2024 pflegebedürftig – und 86 Prozent von diesen Menschen wurden zu Hause betreut, überwiegend von ihren Angehörigen. Jene häusliche Pflege trägt beträchtlich zur Entlastung der Pflegeversicherung bei.
2017 hat die damalige Pflegereform wenigstens dafür gesorgt, dass durch die Pflege zu Hause Rentenansprüche erworben werden – ob das die Rentenlücke durch die Teilzeitarbeit ausgleichen wird, ist allerdings stark einzelfallabhängig.
Das System ist, nicht nur beim Thema Rente, inzwischen wohl in einem Stadium der Selbstkannibalisierung: Vieles, was heute aus Not eingespart wird, wird die künftige Not eher noch verstärken. „Die Altersarmut wird in den kommenden Jahren weiter steigen“, hat jedenfalls die Bertelsmann-Studie schon 2019 prophezeit. Als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet Erwerbslosenberater Sander das Problemfeld. Und ob sich die Gesellschaft da auf gemeinsame Ansätze zur Entschärfung einigen kann, das ist die große Frage.
Das niederländische Modell
Steht ja gerade wieder im Zentrum der Diskussionen, die Rente und ihre Reformen, eine Anhebung der Lebensarbeitszeit beispielsweise. Zum Thema Altersarmut hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung einen „Boomer-Soli“ in die Diskussion eingebracht, also: Rentner mit hohen Einkünften moderat zur Kasse zu bitten, um arme Rentner zu unterstützen. Rein, selbst „ein Anhänger von solchen Solidarmodellen“, meint zum Vorschlag: „Das hat wohl keine Chance, sich durchzusetzen.“ Einen weiteren Vorschlag bringt Sander ein: „Mittelfristig ist die Forderung nach einer Mindestrente wichtig“, sagt er, und er verweist dabei auf das niederländische Modell, das einen Sockelbetrag von gut 1200 Euro vorsieht – im Unterschied zur 2021 eingeführten deutschen Grundrente, die lediglich einen Rentenaufschlag für Rentner mit geringen Arbeitslöhnen und langjährigen Beitragszahlungen darstellt.
An der Stelle kann man ja mal die ältere Frau, die rauchend aus dem Fenster ihres abgewohnten Wohnblocks in Mundenheim lehnt, fragen, wie’s denn so aussieht mit der Rente. „Ändert sich ständig“, sagt die Frau, „da blickt eh keine Sau mehr durch.“ Reicht das Geld? „Pffft“, sagt die Frau, wirft die Zigarette aus dem Fenster, schließt ebenjenes und ist verschwunden.
Auch das illustriert wohl das Thema. Gesellschaftlich diskutiert wird, was öffentlich ist – und Armut im Alter ist es partout nicht, und sei es aus Scham. Bei der alten Erkenntnis, dass man die im Schatten nicht sieht, da gibt’s nun wirklich gar keine Taktung.
Quelle: Die Rheinpfalz (ron.de)
