‚Wetware‘ nutzt ersten kommerziell nutzbaren Computer mit lebenden Gehirnzellen
Bild/Credit: Thor Balkhed/Linköping University
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Wissenschaftler in Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt machen beispiellose Fortschritte im Bereich der Biocomputing, wobei das Schweizer Start-up FinalSpark und das australische Unternehmen Cortical Labs an vorderster Front stehen, um die weltweit ersten kommerziell nutzbaren Computer zu entwickeln, die von lebenden menschlichen Gehirnzellen angetrieben werden.
Dieses aufkommende Feld, das als „Wetware-Computing“ bezeichnet wird, stellt einen grundlegenden Wandel von herkömmlichen, siliconbasierten Prozessoren zu biologischen Systemen dar, die potenziell eine Million Mal weniger Energie verbrauchen könnten als herkömmliche Computer.
Im Labor von FinalSpark in der Schweiz wurden erfolgreich Gehirn-Organoide kultiviert – winzige Ansammlungen von Neuronen, die aus menschlichen Stammzellen gezüchtet werden und bis zu vier Monate überleben können, während sie mit Elektroden verbunden sind, um grundlegende Rechenaufgaben zu erledigen. Dr. Fred Jordan, Mitbegründer von FinalSpark, beschreibt den Prozess als die Schaffung von „Wetware“, bei der Neuronen in als Organoide bezeichneten Ansammlungen entwickelt und mit Elektroden verbunden werden, um als winzige biologische Computer zu funktionieren.

Bahnbrechende Technologien treten in die kommerzielle Phase ein
Das Gebiet hat sich rasch von einer experimentellen Kuriosität zu einer kommerziellen Realität entwickelt. Cortical Labs brachte im März 2025 seinen CL1-Bio-Computer auf den Markt und markierte damit den weltweit ersten kommerziell erhältlichen biologischen Computer zum Preis von 35.000 US-Dollar pro Einheit. Der CL1 kombiniert im Labor gezüchtete Neuronen aus menschlichen Stammzellen mit Siliziumchips und schafft so, was das Unternehmen als „synthetische biologische Intelligenz“ bezeichnet.
Inzwischen haben Forscher der Johns Hopkins University fortschrittliche „multiregionale Gehirn-Organoide“ entwickelt, die neuronale Gewebe verschiedener Gehirnregionen nachbilden und sogar rudimentäre Blutgefäße sowie elektrische Aktivität aufweisen. Dr. Lena Smirnova, die die Forschung an der Johns Hopkins leitet, betont, dass Biocomputing „Silizium-KI ergänzen – und nicht ersetzen – sollte und dabei auch die Krankheitsmodellierung sowie den Einsatz von Tieren reduziert“.
Der Biocomputer des australischen Unternehmens hat bemerkenswerte Lernfähigkeiten gezeigt; frühere Generationen konnten sich erfolgreich selbst das Spielen des klassischen Computerspiels Pong beibringen. Cortical Labs entwickelt nun biologische neuronale Netzwerkserver mit 30 miteinander verbundenen CL1-Einheiten, deren Verfügbarkeit über Cloud-Computing bis Ende 2025 erwartet wird.
Herausforderungen und das Versprechen der Energieeffizienz
Trotz erheblicher Fortschritte stehen Biocomputer vor beträchtlichen technischen Hürden. Die größte Herausforderung besteht darin, das lebende neuronale Gewebe zu erhalten, da Organoide keine Blutgefäße besitzen, die Gehirnzellen auf natürliche Weise mit Nährstoffen versorgen. Simon Schultz, Professor für Neurotechnologie am Imperial College London, merkt hinsichtlich der Entwicklung von Blutgefäßen in Organoiden an: „Wir wissen noch nicht, wie wir das richtig machen sollen“.
Das überzeugendste Versprechen dieser Technologie liegt in ihrer Energieeffizienz. Das Training großer KI-Modelle wie GPT-3 erfordert fast 1.300 Megawattstunden Strom, während Biocomputer den Energieverbrauch potenziell um bis zu einer Milliarde Mal senken könnten. Das menschliche Gehirn arbeitet mit lediglich 20 Watt und verarbeitet dabei Informationen mit unvergleichlicher Effizienz.
Forscher haben merkwürdige Beobachtungen am Verhalten der Organoide dokumentiert, darunter plötzliche Ausbrüche elektrischer Aktivität kurz vor dem Absterben der Zellen – ähnlich den Mustern, die auch bei einigen Menschen am Lebensende zu beobachten sind. Dr. Jordan berichtet, dass FinalSpark in den letzten fünf Jahren „etwa 1.000 bis 2.000 einzelne Todesfälle“ aufgezeichnet hat, die jeweils sorgfältig analysiert werden müssen, um die Ursachen zu verstehen.
Die Technologie bietet Potenzial, die Medikamententestung, die Krankheitsforschung und die Entwicklung anpassungsfähigerer künstlicher Intelligenzsysteme zu revolutionieren. FinalSpark bietet für 500 US-Dollar pro Monat einen Fernzugriff auf seine Neuroplattform an, sodass Forschende weltweit Experimente an lebenden Neuronen durchführen können. Während Dr. Jordan über die Science-Fiction-Ursprünge seiner Arbeit nachdenkt, sagt er: „Ich war schon immer ein Fan von Science-Fiction. Jetzt habe ich das Gefühl, Teil dieser Geschichte zu sein und aktiv dazu beizutragen“.
FinalSparks Ferngesteuerte neuronale Plattform
FinalSparks Neuroplattform stellt das erste kommerziell verfügbare Fernzugriffssystem für Biocomputing-Forschung dar und verfügt über 16 menschliche Gehirnorganoide, die auf vier Multi-Elektroden-Arrays (MEAs) verteilt sind. Jedes MEA beherbergt vier Organoide, die über acht Elektroden sowohl stimuliert werden als auch neuronale Aktivität aufzeichnen, wobei die Datenübertragung über digitale Analog-Wandler mit einer Abtastrate von 30kHz und einer Auflösung von 16 Bit erfolgt. Das System verwendet eine ausgeklügelte mikrofluidische Lebenserhaltungsinfrastruktur zur Pflege der Organoide, die kontinuierlich durch Überwachungskameras beobachtet werden und von einem umfassenden Software-Stack verwaltet werden, der Forschern erlaubt, Variablen einzugeben und Ausgaben zu interpretieren.
Die Plattform agiert als echtes „Wetware“, indem sie Hardware, Software und Biologie in einer bisher nie dagewesenen Integration vereint und Forschern ermöglicht, Experimente an lebendem neuronalen Gewebe aus der Ferne durchzuführen. Universitäten können gemeinsame Organoide ab 500 US-Dollar pro Nutzer und Monat nutzen, während industrielle Kunden individuelle Angebote für dedizierten Organoidzugang erhalten. Neun Institutionen erhalten derzeit kostenlosen Forschungszugang, während 34 Universitäten Interesse an der Nutzung des Systems bekundet haben. Die Neuroplattform überträgt Organoidaktivität rund um die Uhr und ermöglicht Echtzeitbeobachtung, zusammen mit integrierten Funktionen wie Python-Programmier-APIs, digitalen Notizbüchern zur Dokumentation, Datenspeicher- und Backup-Diensten sowie dediziertem technischen Support.
